Im Internet wird man geradezu bombardiert mit „Top Tipps für bessere Streetfotos“. Im Umkehrschluss müssten alle Bilder, die diesen Regeln nicht folgen, miserabel sein. Mal sehen, ob da was dran ist.

Flop-Tipp 1: Benutze ein Zoom

Glaubt man den Nutzern von Internetforen, sind Zooms vom Teufel persönlich erfunden worden, um der Menschheit den Spaß an der Fotografie zu nehmen. Denn nur Festbrennweiten seien ausreichend scharf und lichtstark, so der Tenor. Außerdem sei der sogenannte kreative Zwang kreativitätsfördernd.

Alles Unsinn?

Fangen wir mit der Schärfe an. Sicherlich haben Festbrennweiten eine minimal bessere Abbildungsleistung als Zoomobjektive. Nur, wer bemerkt das? Würde man ein Motiv unter exakt denselben Bedingungen einmal mit einer Festbrennweite und einmal mit einem Zoom aufnehmen, würden meiner Meinung nach 99 % aller Betrachter keinen Unterschied sehen. Aber viel wichtiger: Ist das letzte Prozent Schärfe in der Straßenfotografie überhaupt von Bedeutung? Ich denke nicht. Gute Streetfotos leben nicht von klinischer Klarheit. Das Raue und Dreckige kann durchaus interessant sein. Gute Bilder leben vielmehr vom Framing, schöner Lichtnutzung und dem Gespür für eine besondere Situation. Wen interessiert da eine geringfügig bessere Abbildungsleistung?

Kommen wir zur Lichtstärke. Ich verstehe, dass man beispielsweise für Portraits möglichst lichtstarke Objektive nutzen möchte, um ein schönes Bokeh zaubern zu können. Aber in der Street Photography nutzt man in der Regel nicht die Offenblende; schließlich soll die Umgebung erkennbar sein, da der urbane Raum ein bedeutendes Bildelement darstellt. Vergessen wir ferner nicht, dass die Isoleitung von Digitalkameras extrem gut geworden ist. Man kann mit fast allen Kamerasystemen bequem bis ISO 3200 oder höher gehen (APSC und KB). Wer braucht da noch eine 1 vor dem Komma?

Davon abgesehen gibt es durchaus lichtstarke und qualitativ hochwertige Zoomobjektive (ich selbst nutze ein 2,8-4, ein 2,0 und ein 1,7-2,8). Fast jeder Profifotograf verwendet übrigens ein 24-70mm (2,8). Wo also ist das Problem?

Frankfurt Strassenfotografie
Späti in Offenbach. Aufgenommen am Tage mit einem Zoomobjektiv.

Nun zur Kreativität: Zu diesem Punkt kann ich nicht viel schreiben, außer, dass ich durch die Verwendung von Festbrennweiten nicht kreativer werde. Viel mehr ärgere ich mich, dass ich bestimmte Bilder nicht machen kann, weil ich nicht die passende Optik dabeihabe. Zudem ist Kreativität ja ein vielschichtiger Prozess. Ich kann also mit einem Zoom wunderbar kreativ sein (Framing, Licht, Situationen erkennen, etc.). Inzwischen nutze ich meine Festbrennweiten (50 mm, 28 mm und 24mm) nur noch in der analogen Fotografie, weil ich für meine alten Kameras keine adäquaten Zooms habe.

Flop-Tipp 2: Benutze die Programmautomatik

Oft vernehmbar ist auch der Hinweis darauf, dass Programmautomatiken grundsätzlich nichts taugen. Es muss schon der M-Modus sein, sonst ist man ein unkreativer Anfänger, der „knipst“ und nicht fotografiert. Begründung: Die Kamera weiß ja nicht, was man fotografieren will …

Alles Quatsch?

Nun, Stand 2020 können wir glücklicherweise verdammt clevere Kameras kaufen, die zumindest teilweise „wissen“, was wir fotografieren möchten (KI). Zudem gibt es Halbautomatiken, mit denen fast jeder Streetfotograf viel und gerne arbeitet. Entweder wird die Blende voreingestellt oder eben die Verschlusszeit, je nach dem, was man fotografisch erreichen möchte. Den Rest erledigt die Kamera (zu diesem Prozess gehören auch die Iso-Automatik und der automatische Weißabgleich). Die Ergebnisse sind durchweg positiv.

Zudem nutze ich gerne den P-Modus, also eine Vollautomatik, die mir Zeit und Blende vorgibt, ohne dass ich die Kontrolle abgeben muss, da sich alle Parameter nachregeln lassen. Hinzukommen noch diverse „Kreativprogramme“, die in bestimmten Kreisen ebenfalls verpönt sind. Bei meiner Nikon sind nicht alle Motivprogramme gut, aber ich verwende beispielsweise den Dämmerung-Modus gerne zur blauen Stunde und bin immer wieder erfreut über die Resultate.

Hamburg Strassenfotografie
Hamburg St. Pauli bei Nacht, aufgenommen mit der Programmautomatik.

Ich fotografiere zu 90 % in der Halbautomatik, die restlichen 10 % in Vollautomatik. Durch die Voreinstellungen bekomme ich erst die Möglichkeit, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren: das Motiv und den Bildaufbau. Der P-Modus versetzt mich zudem in die Lage, schnell auf meine Umgebung reagieren zu können. Diesen Gedanken möchte ich am folgenden Szenario verdeutlichen:

Du befindest dich zum Fotografieren in Hamburg. Auf der Suche nach dem Streetfoto deines Lebens, schlenderst du in den Straßen St. Paulis umher. Plötzlich siehst du einen alten Mann mit einem Holzbein, dem ein Papagei auf der Schulter sitzt und der eine abtakelte Blondie im Arm hält. Beide torkeln an dir vorbei in eine nahegelegene Hafenspelunke und du versuchst panisch, Iso, Verschlusszeit und Blende einzustellen. Alles klar?

Flop-Tipp 3: Fotografiere im JPEG-Modus

Es gibt tatsächlich viele Fotografen, die meinen, dass man zwingend in RAW fotografieren müsse, um zu guten („professionellen“) Ergebnissen zu kommen. Alles andere sei „knipsen“.

Ist das wirklich so?

Tja, vor zehn Jahren waren JPEGs wirklich nicht besonders gut. Aber heutzutage konstruieren fast alle Kamerahersteller herausragende JPEG-Engines. In Kombination mit inzwischen erstklassigen Sensoren, vor allem in Bezug auf Dynamik und Bildrauschen, besteht einfach nicht mehr der Bedarf, in RAW zu fotografieren.

Außerdem bieten viele Hersteller die Möglichkeit, eine Filmsimulation vorzuwählen (beispielsweise Fuji, Nikon und Lumix), was den JPEG-Modus zusätzlich interessant macht. Hierdurch kommt beinahe das Feeling vom „Film einlegen“ auf.  

Und das Beste kommt erst noch: Die Nutzung von JPEGs spart viel Zeit, weil man eben nicht vor dem Rechner hocken muss, um an den Lightroom-Reglern zu drehen. Fotografieren macht deutlich mehr Spaß als Bildbearbeitung!

Berlin Strassenfotografie
Battle-Rap in Berlin, geknipst im JPEG-Modus.

Ich fotografiere zu 90 % im JPEG-Modus und nutze das RAW-Format nur in schwierigen Lichtsituationen, um mir den besseren Dynamikumfang von RAW zunutze zu machen.

Flop-Tipp 4: Benutze eine große Kamera (am besten eine Spiegelreflexkamera)

Das Hauptargument für kleine Kameras stellt zumeist auf den Faktor Unauffälligkeit ab („unter dem Radar fliegen“). Oftmals liest man auch, dass man mit einer Spiegelreflexkamera unangenehm auffallen würde.

Sind große Kameras also ungeeignet für Street Photography? 

Das ist meinem Empfinden nach der größte Unsinn überhaut. Zunächst ist es so, dass es kein Mensch merkt, wenn er beispielsweise mit einem Weitwinkelobjektiv fotografiert wird. Er rechnet einfach nicht damit, dass er auf dem Bild ist. In diesem Sinne spielt es also überhaupt keine Rolle, ob man eine große DSLR oder eine Hosentaschenknipse nutzt.

Zudem: Kein Problem haben viele Straßenfotografen damit, ihren Objekten direkt ins Gesicht zu blitzen. Fraglich, ob es da noch einen Unterschied macht, ob man mit einer Ricoh GR 3 fotografiert oder mit einer Nikon D 850 mit einem fetten 2,8er Zoom.

Auch habe ich schon gelesen, dass sich Spiegelreflexkameras besonders schlecht für Street Photography eignen würden, weil das Auslösegeräusch so schrecklich laut ist. Dazu fällt einem nichts mehr ein. Als wenn es auf den Straßen von Berlin, Hamburg oder Frankfurt auch nur ein Mensch merken würde, wenn der Spiegel „klack“ macht.

berlin street photography
Straßenfotografie in Berlin. Zum Einsatz kam eine große DSLR mit Zoom.

In diesem Zusammenhang sei ein kleiner Exkurs erlaubt: Straßenfotografie beschränkt sich nicht auf das Abschießen von Menschen von vorne (hardcore candid). Street Photography ist glücklicherweise vielfältiger. Gemeint ist mit „Street“ nämlich immer der öffentliche Raum. Straßenfotografie funktioniert also wunderbar ohne Menschen. Viele gute Streetbilder zeigen zudem Menschen von hinten oder von der Seite. Wo bei diesen Anwendungsgebieten der Vorteil von kleinen Kameras sein soll, erschließt sich mir nicht.

Gleichwohl nutze ich hin und wieder auch eine kleine Kamera. Es kann situativ durchaus Sinn machen, nicht das schwerste Geschütz aufzufahren. Es geht mir primär darum, aufzuzeigen, warum Pauschalisierungen gehaltlos sind.

Straßenfotografie stellt keine besonders hohen Anforderungen an die Technik, wie beispielsweise Modefotografie (für Magazine oder große Unternehmen). Street Photography lässt sich faktisch mit jeder Kamera betreiben: analoge SLR, DSLR mit 2,8er Zoom, Spycam, DSLM oder Handy. Alles geht, alles ist erlaubt.

Zum Thema die richtige Kamera für Streetfotografie, habe ich eine eigenen Artikel geschrieben, in dem es etwas mehr in die Tiefe geht.

Flop-Tipp 5: Sei feige und nutze ein Teleobjektiv

Viele Straßenfotografen predigen, dass die besten Brennweiten für Street 28 mm, 35 mm oder 50 mm seien. Und was ist mit Telezooms? Ich habe tatsächlich schon mehrfach gelesen, dass es feige sei, Menschen mit Teleobjektiven „abzuschießen“. Besser seien die bereits erwähnten SpyCams mit (weitwinkliger) Festbrennweite.

Echt jetzt?

new york city Street Photography
Streetfoto aus New York, feige aufgenommen von der gegenüberliegenden Straßenseite.

Meiner Meinung nach ist es primär Geschmackssache, ob man mit 120 mm oder mit 28 mm Brennweite fotografiert, denn die Bildästhetik ist eine ganz andere. Längere Brennweiten bieten eine geringere Schärfentiefe, wodurch das Motiv besser isoliert werden kann. Zudem ist die Bildwirkung bei einem Teleobjektiv „enger“ und bietet mehr Potenzial für Intimität. Man muss den Look von einem Teleobjektiv nicht mögen, aber es tut gut, auch mal Streetbilder zu sehen, die eine andere Optik haben. Sei also bereit, über den Tellerrand hinauszuschauen und der Kreativität zusätzlichen Schub zu verleihen.